David Sylvian: Ich blicke nicht zurück!
Auf seinem neuen Album „Manafon“ glänzt David Sylvian einmal mehr als der große Tragöde des Pop. Vielleicht sind es die neuen Wege, die er darauf mit österreichischen Impro-Musikern beschritt, die es zu seinem bislang auch persönlichsten machen. Aus der selbst gewählten Einsamkeit der Wälder Neuenglands, wo er völlig abgeschieden in einem Holzhaus lebt, gab er Skug ein Interview, in dem er über Improvisation, Isolation und emotionelle Archäologie philosophierte.
Mein erstes David Sylvian-Album war „Gone to earth“. Dann kam „Secrets Of The Beehive, das für mich, auch nach all den Jahren, immer noch ein Meisterwerk ist. Wenn man nun Ihr neues Album „Manafon“ mit „Secrets Of The Beehive“ vergleicht, könnten die beiden wohl unterschiedlicher nicht sein. Die einzige Gemeinsamkeit ist vielleicht ihre Komplexität. Wäre da nicht Ihre unverkennbare Stimme, man könnte sogar meinen, es wären verschiedene Künstler am Werk. Sehen Sie das ähnlich, wenn Sie zurück blicken?
Ich blicke nicht zurück, aber dazwischen liegt sicherlich ein gutes Stück Arbeit, von dem ich mich teils völlig, teils überwiegend geschieden fühle. Mich wundert immer wieder, wenn ich sehe, wie Kollegen mit Stücken touren, die sie geschrieben haben, als sie um vieles jünger waren. Von vielen meiner Stücke fühle ich mich gar nicht mehr als Urheber und komme mir, wenn ich sie performe, als Schwindler vor – ein Gefühl, das ich zu vermeiden suche. Aber um Deine Frage zu beantworten: Sicherlich liegt ein Gutteil der Faszination meiner Arbeit an ihrer Mannigfaltigkeit und dem Wachstum des Individuums als ihrem Zentrum. Und auf eine gewisse Weise ist es auch wichtig zu erkennen, dass das dieselbe Person ist, die diese unterschiedlichen Platten macht. Aber wir altern, ändern und entwickeln uns, die Zeiten ändern sich und die Sprache, mit der wir die gleichen Themen besprechen, muss sich mit ihnen ändern. Von diesen ewig gleichen Themen versuche ich zu sprechen und die Voraussetzungen für das Menschsein zu reflektieren – allerdings in einer Stimme, die das Jetzt anspricht. Komfort-Musik hat sicher ihren Platz, aber woran es uns heute fehlt ist Musik, die Erfahrung mitteilt und das System schockt; uns aus unserer Apathie herausholt und uns die wahre individuelle und kollektive Lage vor Augen führt.
In einem Interview sagten Sie, nach dem Ende von Japan fanden Sie eine neue Basis. Meinten Sie damit Ihr erstes Solo-Album „Brilliant Trees“?
Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich damit meinte. Ich glaube aber eher, dass ich Die Notwendigkeit meinte, ein philosophisches Fundament, eine Verwurzelung zu finden, von der aus meine neue Arbeit wachsen konnte. Die aktive Suche danach beschäftigte mich in den Jahren 81 bis 83 und brachte etwas ans Licht, das tiefer lag als Wohlstand und Behaglichkeit, die damals wie heute keinen Wert für mich haben.
Wie hat sich Dein Denken, Deine Sichtweise der Welt, seit den „Brilliant Trees“-Tagen verändert?
Ich bin immer noch in der gleichen Erde verwurzelt. Ich bin gewachsen, gereift. Wenigstens hoffe ich das. Aber immer noch kann ich den Mann erkennen, der das Material damals geschrieben hat, und verstehe, woher er kam und welche Ziele er hatte. Meine Sicht auf die Welt hat sich seitdem weniger verändert als schlicht erweitert und das tut sie immer noch.
Wie kam es, dass auf „Manafon“ mit Christian Fennesz, Werner Dafeldecker, Franz Hautzinger, Michael Moser and Burkhard Stangl so viele österreichische Musiker mitwirken?
Die Sessions fanden aus einem ganz bestimmten Grund in Wien statt: Weil dort diese wunderbare Musiker leben nämlich. Ich hatte „Wrapped Islands“ von Christian (Fennesz, Anm.) und „Polwechsel“ gehört, war von der Selbstbeschränkung ihrer Performances beeindruckt und wollte sie für meine eigenen Bedürfnisse anzapfen. Schließlich hat mich Christian ermutigt, nach Wien zu kommen, um das, was ich vorhatte zu realisieren. Er hat als eine Art Zwischenhändler und Förderer fungiert.
Gab es einen speziellen Moment, in dem klar wurde, dass die Sessions zu einem definiten Release führen würden oder war das von Anbeginn an geplant?
Die Intention war von Anbeginn da, aber ich wusste nicht, ob der Zugang, mit freien Improvisationskünstlern zu arbeiten, um ein von mir nur vage umrissenes Ziel zu erreichen, funktioniere würde. Aber als ich Wien wieder verließ, wusste ich, dass es geklappt hat.
Viele Journalisten haben „Manafon“ als Follow-Up von „Blemish“, Ihrer ersten gemeinsamen Arbeit mit Christian Fennesz, beschrieben. Sehen Sie das selbst auch so?
Es ist eine Art Schwester geworden, was das Schreiben oder besser den Entstehungsprozess anbelangt. „Manafon“ spiegelt diese Prinzipien wider, entwickelt und erweitert sie.
Sie sagten auch, Ihre ersten Berührungspunkte mit improvisierter Musik hatten Sie auf „Rain Tree Crow“, einem interessanten Projekt mit Ihren Ex-Band-Kollegen von Japan Mick Karn, Richard Barbieri and Steve Jansen aus dem Jahr 1991. Kommt der Titel-Track, auf dem Sie zu Schicht für Schicht aufgetragenen improvisierten Synthesizer-Sounds singen, dem jetzigen Entstehungsprozess nahe oder gleich?
Meine ersten Berührungspunkte mit improvisierter Musik liegen eigentlich noch weiter zurück: Als ich 1984 den Soundtrack „Steel Cathedrals“ aufnahm. Der zweite und sicher wichtigere Schritt war, mit Holger Czukay auf „Plight and Premonition“ zusammen zu arbeiten. Die positiven Erfahrungen, die ich dabei sammeln durfte, waren es, die mich veranlassten, das RTC-Projekt zu initiieren.
Die früheste wirkliche Referenz zu Manafon ist vielleicht der Track „Ghosts“, aber zwischen 1981 und heute ließen sich eine Menge anderer Stücke finden, die auf die eine oder andere Art relevant für meine persönliche Entwicklung waren. Manafon ist die Kulmination von dreißig verrückten Jahren als Interpret, Komponist und Produzent. Es fühlt sich manchmal mehr wie eine emotionelle Archäologie an als alles andere, was ich gemacht habe.
In der Pop-Geschichte gibt es nur ganz wenige Musiker, die immer das taten, was sie tun wollten und sich dabei nie an den Mainstream anbiederten. Sie sind wohl einer dieser wenigen. Dennoch scheint der Weg Ihrer Musik – ganz abgesehen von ihrer konstanten Qualität – ein ständiges Hin und Her zu sein, was die Bereitschaft zum Experiment betrifft. Zwischen „Brilliant Tress“ und „Gone To Earth“ ist es ein großer Schritt. Ebenso etwa zwischen „Dead Bees“ und „Bleemish“…
Auf mich wirkt die Entwicklung relativ linear, mit einigen Ablenkungen vielleicht, die ich auszulöschen versuchte, und großen Sprüngen etwa alle zehn Jahre, zB von „Tin Drum“ zu „Brilliant Trees“ oder – wie Sie gesagt haben – von „Dead Bees“ zu „Blemish“. Das waren sehr wichtige Entwicklungsschritte, die die Form dessen, was noch kommen wird, maßgeblich veränderten.
Im Vergleich zu den Gesellschaften, in denen wir leben, empfinden indigene Völker Zeit nicht linear, sondern zirkulär. Ist das eine Denkweise, der Sie etwas abgewinnen können?
Vielleicht ist die Spirale eine passendere Analogie. Das Wachstum des Individuums ist keineswegs eine lineare Reise. Es wird vielmehr als multi-dimensional, multi-facettiert, intuitiv und tiefschürfend komplex erfahren, während es umgekehrt und in Wirklichkeit auch von einer simplen Klarheit durchdrungen, von purer Ausgelassenheit und Tiefgründigkeit ist, die sich uns ab und an entzieht. Wir sind uralt und voll des Lebens in ein und demselben Moment. Es gibt weniger zu lernen als ungeschehen zu machen.
Um auf die Entstehung von „Manafon“ zurück zu kommen: Selbst wenn Sie vom Weg abgekommen sind oder seine Existenz leugneten, waren Sie trotzdem immer noch auf dem Weg. Gibt es in Ihrer Arbeit denn tatsächlich Dinge, die Sie gerne ungeschehen machen würden?
Wenn Sie damit Alben meinen, die ich besser nicht gemacht hätte: Klar, da gibt es einige. Alles, was ich vor meinem 21. Geburtstag aufgenommen habe, könnte man ohne Verlust vernichten. Das zweite Album, das ich mit Holger Csukay aufgenommen habe, war irgendwie erzwungen und ich in keinem geistig gesunden Zustand. Ähnlich verhielt es sich auch mit „The first day“. Aber die Erfahrung aus allen, also auch diesen Projekten erwies sich als prägend. Mit Robert (Fripp, Anm.) zu arbeiten, war enorm lehrreich und seine Anwesenheit in meinem Leben während einer Umbruchphase extrem willkommen. Dennoch bin ich heute von unserer Studio-Zusammenarbeit nicht mehr restlos überzeugt. Live war es etwas anderes. Aber in jeder meiner Arbeiten gibt es wohl Aspekte, die verbesserungsfähig gewesen wären oder die man besser erst gar nicht versucht hätte. Aber wie ich vorher schon sagte: Ich blicke nicht zurück. Ich gehe nicht zurück und höre mir altes Material von neuem an. Sicherlich auch eine sehr erschreckende Haltung. Wie Borges einmal sagte: Was ich geschrieben habe, lese ich nie noch einmal. Dazu bin ich viel zu ängstlich und beschämt.
The Wire hat ihre Titel-Geschichte über Sie mit „Die Erfindung der Einsamkeit“ betitelt. Für mich klingt das sehr artifiziell, als ob jemand absichtlich und kalkuliert vorgegangen wäre, während ich „Manafon“ weniger als kreierten Soundtrack der Einsamkeit als vielmehr als sehr, sehr persönliches Werk erfahren habe
(lacht) Da werde ich jetzt nicht widersprechen.
Welche Musik begleitet Sie durch die kalten Tage?
Ich höre derzeit keine Musik.
Der Schriftsteller R.S. Thomas, auf den sich das titelgebende Stück „Manafon“ bezieht, hat eine Glaubenskrise überstanden. Fühlen Sie sich ihm auf besondere Art und Weise verbunden?
Eigentlich nicht. Er schien mir nur irgendwie seltsam vertraut. Ich glaube, ich verstehe einfach, wie sein Geist funktioniert. Seine Widersprüche, sein einsamer Geist und sein Verlangen nach Wissen über göttliche Realität – das alles kann ich gut nachvollziehen. Und das fühlt sich wie eine mögliche Fernbeziehung an.
Er schreibt über Arbeit und Arbeiter und die Notwendigkeit, sich zu involvieren und Kontakt zu halten. Wie funktioniert Ihre Beziehung zu Menschen, Arbeit und Leben?
Einerseits ist es der kreative Akt, der die Verbindung herstellt, Reaktionen hervorruft und mich auf Reisen führt, die sonst nicht möglich wären. Anders als bei Thomas´ literarischer Arbeit ist meine aber nicht gänzlich einsam. Tatsächlich hat sie mich durch meine Auftritte in Kontakt mit großen Gruppen von Menschen gebracht. Aber es ist nicht der soziale Aspekt, der in meiner Arbeit eine tragende Rolle spielt… Dann gibt es etwas, was ich einfach als meine „Praxis“ bezeichne. Die hat mich mit den unterschiedlichsten Leuten zusammen gebracht, die sich gegenseitig unterstützen, aber auch das würde ich nicht überbewerten. Ganz abgesehen davon habe ich die letzten sechs Jahre eine sehr isolierte Existenz geführt, für die ich mich nicht entschuldige, denn dieser Rückzug war sehr wichtig für mich.
Können Sie sich vorstellen, diese gewählte Isolation für das nächste Album zu verlassen oder denken Sie, das würde Ihre Kreativität gefährden?
Was sein wird, wird sein. Ich will mich nicht durch künstliche Parameter beschränken lassen.
Seinen Geist für totale Improvisation zu befreien muss für jemanden, der dreißig Jahre lang Musik macht und sich dadurch auch in einem bestimmten System befindet, sehr schwierig sein. Manchmal wird man auf „Manafon“ auch den Eindruck nicht los, dass, obwohl Sie wirklich improvisieren, trotzdem noch eine gewisse Eingängigkeit vorhanden ist, von der Sie sich nicht befreien wollten oder konnten.
Warum auch sollte man die Hooks einer vorhandenen Melodie unbedingt verlieren oder sie umgekehrt dort suchen, wo es sie nicht gibt? Die auf „Manafon“ getroffene Balance war immer die, von der ich das Gefühl hatte, dass sie für die jeweilige Komposition die beste ist. Die Komposition gilt es zu unterstützen, nicht mehr und nicht weniger.
Glauben Sie, dass „Manafon“ durrch die Verschmelzung beider Welten Leuten, die zu improvisierter Musik keinen Zugang haben, einen solchen eröffnet?
Ich weiß nicht. Jedenfalls war es nicht Intention. Potenziell könnte es ja auch das Gegenteil auslösen und mein eigenes wie auch das Publikum improvisierter Musik befremden. Es ist ein Hybrid und ich weiß nicht, ob und wo er ein Publikum finden wird. Aber es hat auch keine Eile. Dass offene Geister es, wenn sie darauf stoßen, zu schätzen wissen – das ist es, was ich mir wünsche.
Nachdem Sie dieses Album gemacht haben: Denken Sie, es gibt andere Bereich der Impro-Musik, die es noch zu erkunden gilt?
Schwer zu sagen. Ich habe kein Verlangen, den Zugang, den ich jetzt gewählt habe, exakt zu wiederholen. Vielleicht werde ich auch etwas ganz anderes machen und irgendwann später, wenn sich neuerlich die Gelegenheit dazu bietet, darauf zurückkommen. Vielleicht aber auch wird es eine persönliche Notwendigkeit sein, reaktionär darauf zu reagieren. Aber eins nach dem anderen: Als erstes kommt immer noch der Sinn, etwas Bestimmtes mitzuteilen und erst dann die Form, in der man das tun sollte.
Könnten Sie sich vorstellen, gemeinsam mit den Musikern, die an Manafon arbeiteten, direkter in den Entstehungsprozess involviert zu sein, d.h. nicht Sessions von ihnen einspielen zu lassen, sondern gemeinsam Sessions zu spielen?
Die Beziehung zu diesen Musikern zu intensivieren, war nicht mein Anliegen. Ich bin kein Improvisationskünstler, ich bin Komponist, Songwriter oder wie immer man es auch bezeichnen mag.
Ich war vielmehr interessiert daran, meinen musikalischen Horizont zu erweitern, indem ich mich auf einem Terrain bewege, das sich mit meinen üblichen Zielen spießt. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich das Bedürfnis, ein Impro-Musiker zu sein oder zu werden. Und das ist auch noch immer so. Diese Leute haben Jahrzehnte ihres Lebens der Freiheit gewidmet, die dann entsteht, wenn man eine bestimmte Professionalität oder Flüssigkeit am Instrument erarbeitet hat, die ein Leben und Atmen im Moment ermöglicht. Das ist eine Philosophie, die nicht nur die Entstehung der Musik selbst, sondern auch die Musiker selbst begleitet. Man kann daher nicht von einem Tag auf den anderen in deren Umgebung herumspazieren und sich den Impro-Hut aufsetzen. Oder zumindest kann ich das nicht. Andererseits wird auch zu viel Wert darauf gelegt, Improvisation als exklusive Domäne einer Minderheit darzustellen. Es ist aber doch so: Alle Künste beinhalten Elemente der Improvisation, vom Akt der Schöpfung bis hin zur Performance, sonst wäre kein Leben in ihnen. Was freie Impro aber ausmacht, ist diese Unmittelbarkeit, der Mangel an Zeit zwischen Impuls und Ausführung, dieser Akt purer Schöpfung im Moment, wenn Gedanke und Aktion als das Resultat intuitiver Anstrengung eins werden.
Musik wie auf Manofon muss sehr schwierig live zu performen sein. Entweder sie ist es keine improvisierte Musik mehr oder – wie es Franz Hautzinger unlängst sagte – sie verliert irgendwann ihre Authentizität und Plausibilität. Denken Sie, dass es möglich wäre, ein Live-Setting dafür zu finden, das Sie und Ihre Ansprüche zufrieden stellt?
Das hab ich wieder und wieder überlegt. Dafür müsste ich zuerst einmal eine Gruppe von Leuten finden, die willens wären Elemente von beidem – komponierter und improvisierter Musik – einzufangen. Keine unmögliche Aufgabe. Tatsächlich könnte es sogar sehr spannend sein, aber ich habe noch nicht beschlossen, ob das wirklich drin ist oder nicht.
Vielen Dank für das Gespräch.