Von der Verführung verführt

Robert Schindel ist nicht nur einer der größten Schriftsteller des Landes, er ist auch einer seiner größten Opernfans. Zwei bis drei Mal pro Woche pilgert er in die Wiener Staatsoper, um dort Musiktheater zu erleben. Ein Fan solchen Kalibers ist der optimale Gesprächspartner für einen Schnelldurchlauf der heuer in Salzburg aufgeführten Opern.

Woher kommt Ihre Liebe zur Oper?
Eine Tante nahm mich in die Oper mit, zuerst ins Theater an der Wien, dann in die neu eröffnete Staatsoper. Und da entdeckte ich: Opern sind, wenn sie gut gemacht sind, wahre Gefühlskraftwerke, die einen emotional regelrecht durchmassieren. Mein erstes dieser Kraftwerke war „Fidelio“.

Ihre Romane und Gedichte verfügen über eine Doppelbödigkeit, an denen es Opern oft mangelt, weil sie von der Einfachheit der emotionalen Sprache leben. Sehn Sie darin einen echten oder nur einen vermeintlichen Widerspruch?
Die Einfachheit der Oper bezieht sich auf die Dramaturgie und ihre Handlungsabläufe. Da werden in den Libretti die Sachen oft verkürzt: Man schaut sich an und schon ist die Liebe da. Aber bei den großen Opern ist die Doppelbödigkeit durch die Spannung zwischen Text und Musik durchaus vorhanden. Wenn Fidelio als Gefangener sein Lied singt, spielen die Fragen nach der Grenze von Freiheit und Endlichkeit auch in der Musik eine große Rolle.

Gehen wir zur ersten Oper: „La nozze di Figaro“. Gehört Sie zu Ihren Lieblingsopern?
Nicht unbedingt. Ich mag sie schon gerne, zu meinen Favoriten zählt sie allerdings nicht.

Das wundert mich. Als politischem Menschen müsste Ihnen die Thematik der Revolte gegen den Herrn doch besonders liegen.
Von der politischen Dimension erfuhr ich erst viel später, als ich „Waffen für Amerika“, einen Roman über Beaumarchais (den Lustspieldichter, auf dessen Stück sich Da Ponte in seinem Libretto stützte, Anm.) von Lion Feuchtwanger las – ein sehr gutes Buch. Bis dahin habe ich nur die Musik, vor allem die großen Arien verehrt. Heute sehe ich das anders, wenngleich die Handlung mit ihrem Happy End letztlich etwas Versöhnliches hat, das sich mit der Wirklichkeit nicht ganz deckt. Aber Da Pontes Version wurde gegenüber dem Beaumarchaisschen Original, das ja verboten wurde, auch ganz wesentlich entschärft.

Aber interessante Figuren finden sich auch in Da Pontes Version.
Ohne Zweifel. Susanna, der Graf, Figaro, die Gräfin…, das sind schon fein gezeichnete Figuren. Den Gegensatz allerdings zwischen Figaro und dem Grafen, habe ich, obwohl ich in der kommunistischen Partei und also „klassenbewusst“ aufwuchs, erst viel später tatsächlich begriffen. Fidelio als Freiheitsoper habe ich von Anfang an viel politischer aufgefasst, was wahrscheinlich mit meinem Vater zu tun hat, der als politischer Gefangener umgebracht wurde.

Ist „Don Giovanni“, die zweite Mozart- und Da Ponte-Oper, auch für Sie Mozarts Meisterwerk?
Ja, absolut. Das ist eine ganz große Oper für mich. Vielleicht sogar die Oper aller Opern. Mozarts berühmt gewordene Antwort auf die Kritik Josephs II., die Oper weise „gewaltig viele Noten“ auf, trifft den Nagel auf den Kopf. „Gerade so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind“ soll er damals geantwortet haben und genauso ist es auch: Alles, was da ist, ist auf den Punkt und dramaturgisch ausgewogen. Gleichzeitig hat die Oper so viele Möglichkeiten in der Musik: Alle Ambivalenzen, die etwa zwischen Verführer und Vergewaltiger, hört man auch. Die charakterliche Widersprüchlichkeit von Don Giovanni spiegelt sich in der Musik perfekt wider. Das Interessante ist doch, dass ein wirklicher Schurke auch viele sympathische Seiten aufweist. Selbst den Mord an Donna Annas Vater könnte man als Notwehr betrachten.

Es gilt die Unschuldsvermutung?
(lacht) Ja, auch für ihn.

Am Archetypus Don Juan haben sich über die Jahrhunderte von E. T. A. Hoffmann bis Søren Kierkegaard so einige Größen der europäischen Kulturgeschichte abgearbeitet. Was ist so reizvoll daran?
Die endlose Vor-Lust, die Unfähigkeit, Liebe und Erotik miteinander zu versöhnen. Don Juan ist immer auf der Suche, von der Verführung verführt und in die Verliebtheit verliebt. Aber sobald es ernst zu werden droht, funktioniert es nicht mehr – ein Thema, das heute aktueller ist denn je. Ist jemand nicht kompromissfähig, wird er unweigerlich in die Einsamkeit gedrängt.

Gehen wir zur dritten Mozart-Oper, die zugleich wohl auch jene mit der offensten Moral ist: Cosi Fan Tutte.
Das Amoralische finde ich sehr interessant, zugleich aber ist Cosi Fan Tutte eine Oper, in die ich nie wirklich rein kam. Ich bin ein wirklich großer Fan der Mozart-Opern, nur berührt mich Cosi Fan Tutte bei weitem nicht so wie es Don Giovanni vermag. Irgendwie bin ihr auch immer ein bisschen ausgewichen. Aber um den berühmten Lichtenberg-Aphorismus zu bemühen: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist es nicht immer das Buch.“ Ich nehme die Schuld also auf mich.

Die vierte große Oper: Macbeth von Verdi.
Eine musikalisch sehr schöne Oper. Hier dient die Verkürzung dem Herz des Stückes, und damit ist sie auch literarisch sehr interessant. Fast alles, was das Stück erzählt, kommt auch in der Oper vor, die literarische Vorlage wurde ungemein verdichtet. Ich würde sogar so weit gehen, Macbeth als kongeniale Adaption zu bezeichnen. Und sehr erfrischend.

Tatsächlich „erfrischend“, wo die Grundstimmung doch eine überwiegend düstere ist und die Figuren extreme pathologische Bewusstseinszustände durchleben?
Liebe, Eifersucht und Rache, Machtgier, Zerstörungswahn und Mordlust, das alles ist da. Aber die Musik hat trotzdem etwas ungemein Erfrischendes. Schon die Ouverture ist bedrohlich und zugleich schwungvoll. (überlegt) Vielleicht ist „schwungvoll“ das bessere Adjektiv.

Gehen wir zu Richard Strauss´ „Frau ohne Schatten“. Damit nähern wir uns einer Epoche, die Ihnen literarisch sehr nahe liegt.
Stimmt. Schnitzler ist für mich so etwas wie ein Wahl-Opa. Aber auch musikalisch steht mir das Fin de Siecle nahe. Und bei Strauss liebe ich vor allem das, was Andrea Breth Kitsch nannte. Und seine Gemeinsamkeiten mit Mahler. Wenn Strauss nicht ein wenig schlampig gewesen wäre, wäre er vom Musikgenie her in Beethovenscher Höhe anzusiedeln. Arabella Elektra, Salome… das sind große Opern.

Und die „Frau ohne Schatten“?
Die Oper selbst kenne ich nicht sehr gut, habe sie nur einige Male gesehen. „Der Kaiser muss versteinern!“ – dieser Satz ist mir noch im Ohr. Und im Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Schnitzler sprechen die beiden immer von der „sonnigen Frau“, das fand ich sehr nett.

Gehen wir zur „Sache Makropoulos“. Leos Janacek hatte ein interessantes Steckenpferd.
(lacht) Meinen Sie den Nationalismus?

Nein, eher die Melodie des gesprochenen Worts.
Im Ernst: Ich verehre ihn sehr. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren, als er eine Oper nach der anderen schrieb, hat er Großes geleistet. Erst kürzlich habe ich „Das Totenhaus“ gesehen – eine tolle Oper, die all das, was man sich von einer Oper erträumt, einlöst und tatsächlich ein Gesamtkunstwerk ist. Bei Janacek verschmelzen Alt und Neu, das Alte wird teils zitiert, teils durch das Neue ad absurdum geführt, und dadurch werden Geist und Seele gleichermaßen angeregt.

Seine Melodie des gesprochenen Wortes versuchte er in die Praxis umzusetzen, indem er Alltagssprache auf Tonband aufnahm und sie leicht verändert in die Komposition einfließen ließ.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb seine Rezitative so etwas Authentisches haben.

In Janaceks Oper wird ein Bild von der Justiz gemalt, das den Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit gnadenlos offenlegt. Ist die Justiz etwas, das Sie scheuen?
Ich fürchte mich nicht vor der Justiz, sondern ihrem Missbrauch, wenn sie sich der Herrschaft andient und nicht unabhängig ist. Es gibt gute Traditionen, wo oberste Gerichtshöfe eine positive Korrektur zur teils problematischen Politik der Regierungen darstellen und damit Wächter darüber sind, dass Recht und Gerechtigkeit konvergieren. Oft aber ist die Justiz Instrument und Repressionsmittel der Herrschenden – ein altes Thema nicht nur der Oper sondern auch meiner Literatur. Der unmäßige Strafvollzug hat mich seit den späten 60er Jahren beschäftigt. Damals stellte man sich sehr stark auf die Täterseite und übertrieb es manchmal, indem man die Selbstverantwortung einfach wegargumentierte. Trotz allem hat es sehr viel zu meinem Grundverständnis beigetragen: Selbstverantwortung ja, aber viele Menschen sind auch Opfer ihrer Verhältnisse, von Wozzeck angefangen.

Würden Sie sich als Moralisten bezeichnen?
Wenn man als Künstler im weitesten Sinne nach einer Verbindung von Ästhetik und Ethik sucht, muss man sich wohl als Moralisten bezeichnen lassen; aber nicht im engen Sinne, dass die Moral das Leben erstickt.

Nach Ihrer Definition gäbe es viele Moralisten, die man gemeinhin nicht als solche bezeichnen würde.
Genau, de Sade zum Beispiel.

Vielen Dank für das Gespräch.
 

 

Robert Schindel ist Lyriker, Schriftsteller und Regisseur. 1944 wurde er als Kind österreichischer Kommunisten jüdischer Herkunft unter dem Decknamen Robert Soel geboren. Seine Eltern flogen als Mitglieder einer Widerstandsgruppe auf und wurden deportiert. Sein Vater starb im KZ Dachau. Robert Schindel lebt und arbeitet in Wien und im Waldviertel. 1992 veröffentlichte er den Roman „Gebürtig“, der 2001 verfilmt wurde. Zuletzt erschienen von ihm „Dunkelstein. Eine Realfarce“ (Haymon) und „Mein mausklickendes Saeculum“ (Gedichte, Suhrkamp).