Immer auch ein wenig fremd

„Charlotte Salomon“, die auf dem Tagebuch in Bildern „Leben? oder Theater?“ der Malerin basierende Oper von Marc-André Dalbavie erzählt vom Aufbäumen gegen die Vernichtung. Das Libretto dazu schrieb die deutsch-jüdische Autorin Barbara Honigmann. Ein Gespräch über einzigartige Kunst, jüdische Realität und Liebe, die nicht zu bewältigen ist.

Können Sie sich noch an den ersten Kontakt mit Charlotte Salomons Werken erinnern?
Das ist sehr lange her, wahrscheinlich war es in den frühen 1980ern. Da lebte ich noch im Berliner Osten. Ich habe aber das Gefühl, dass ich ihr Werk von Anfang an, also sofort, nachdem es an die Öffentlichkeit drang, auch wahrgenommen habe. Ich habe es auch immer wieder und überall gesehen, auf allen möglichen Ausstellungen. Sogar in Frankreich gab es einmal in einer kleinen Stadt, in Saverne, eine Ausstellung, zu der ich alle Freunde und Bekannten hinscheuchte. Hier in Straßbourg, in Frankreich überhaupt ist sie ja vollkommen unbekannt, sogar in den sogenannten gebildeten Kreisen. Auch der Komponist Marc André hatte zuvor noch nie etwas von ihr gehört, sagte er mir. Niemand also kennt Charlotte Salomon, obwohl es Anfang der 1990er im Pariser Centre Pompidou einmal eine große Ausstellung gab. Sie ist in Frankreich einfach nie richtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen.

Hat Sie Leben und Werk Charlotte Salomons, als sie damals erstmals damit konfrontiert wurden, gepackt und betroffen gemacht?
Ehrlich gesagt ist das nur eine von vielen tragischen Geschichten. Das Tagebuch der Anne Frank und viele andere solche Dokumente hatte ich ja damals schon gelesen und so meine Schockerlebnisse gehabt. Natürlich kann man sich auch bei Salomon der Tragik ihrer Geschichte nicht entziehen, aber das Einzigartige bei ihr ist einfach dieses Werk, weil es so ungewöhnlich ist und keiner anderen Sache ähnelt. Dieses Werk steht doch sehr im Vordergrund, vor der tragischen Geschichte. Das Unglück ist doch, dass es viel zu lange nur im jüdischen Kontext immer nur als ein weiteres Zeugnis eines Holocaustschicksals gezeigt wurde und nicht als das, was es ist: Ein alle Genres sprengendes Kunstwerk zwischen Literatur, Malerei und Musik. Das Werk Charlotte Salomons hat eine ganz eigene Dimension. Durch die Verweise auf die Musik gibt sie dem Werk eine sehr dramatische Form. Das gab es vorher nicht.

Würden Sie die Entstehung des Werkes als ungewöhnlich bezeichnen?
Ja, aber das würde ich nicht überbewerten. Ungewöhnliche Entstehungsgeschichten von wichtigen Werken gab und gibt es immer wieder. Rosenzweig etwa hat den „Stern der Erlösung“ im Schützengraben des I. Weltkriegs geschrieben. Auch bei Charlotte Salomon war das einfach der Moment, in dem es gemacht werden musste, und es war tragisch, dass sie dann deportiert wurde und dieses einmalige Werk nie eine Fortsetzung fand. Sie war ja noch so jung. Wer weiß, was sie noch hätte schaffen können…

Die Symbolkraft dieses Werkes ist aber doch eine sehr maßgebliche, zeigt es doch, dass die Macht des Bösen nicht alles zerstören konnte.
Ja, natürlich. So kann man das sehen. Aber man kann es auch so sehen, dass es doch ziemlich lange gedauert hat, bis man das Werk überhaupt wieder wahrnahm. Derzeit werden auch wieder vermehrt Werke von Komponisten aus den Lagern aufgeführt. Auch da hat es sehr lange gedauert, bis diese Werke auch als Kunst anerkannt wurden. Also: Ja, das Werk lebt, aber wie gesagt ist es hier in Frankreich sehr unbekannt. Und es gibt ja nur antiquarische deutsche Ausgaben zu kaufen.

Ist das nicht ein Skandal – dass man sich ein so bedeutendes Werk nur über antiquarische Kanäle besorgen kann?
Das ist ein Skandal. Genau das meine ich damit, wenn ich sage, es hat alles sehr lange gedauert. Im Grunde ist das Werk aus dem jüdischen Kontext nicht herausgekommen, bis 1999 in London die große Ausstellung in der Royal Academy of Art stattfand. Man kann nur hoffen, dass sich das jetzt langsam ändert.

Würden Sie sagen, dass Salomons Werk ein wichtiges Puzzlestück auf der Suche nach der jüdischen Identität vor dem zweiten Weltkrieg ist?
Ja sicher. Es ist auf jeden Fall ein wichtiges Zeugnis. Charlotte Salomon verkörpert all das, was man sich unter dem Berliner deutsch-jüdischen Großbürgertum vorstellt. Ihr Werk ist unter anderem auch ein Porträt dieser deutsch-jüdischen Kultur und der Elite, die nicht mehr da ist und nie mehr da sein wird. Man darf aber auch nicht vergessen, dass sie diese Welt mit sehr viel Ironie porträtiert. Es ist ein sehr ironisches und selbstironisches Werk.

Johanna Wokalek, die Charlotte Salomon in der Salzburger Inszenierung auf Deutsch sprechen wird, hat mir gegenüber gemeint, es sei bemerkenswert, dass Salomon in ihrer Kunst versucht habe, einen möglichst objektiven Standpunkt einzunehmen. Sehen Sie das auch so?
Eigentlich nicht. Von objektiv kann keine Rede sein. Kein Künstler ist objektiv. Dinge in Kunst zu übersetzten heißt, sie in etwas zu verwandeln, was sehr subjektiv ist und es auch sein soll.

„Das Theater ist immer eine große Liebe von mir gewesen, aber als Leben konnte ich es nicht bewältigen.“

Haben Sie sich in Ihrarer Fassung eigentlich stark an den Originaltext gehalten?
Ja absolut. Luc (Bondy, Anm.) , Marc (-André Dalbavie, Anm.) und ich waren uns darüber sofort einig. Sie hat ja diese unendlich vielen Blätter gezeichnet, gemalt, geschrieben. Da jetzt irgendetwas erfinden zu wollen, wäre sinnlos. Meine Arbeit war – ohne falsche Bescheidenheit – eine vorwiegend dramaturgische. Mein Libretto ist eine Collage aus 90% ihrer eigenen Texten und meiner Montage, damit man der Geschichte gut folgen kann. Bestimmte Sachen habe ich beiseite gelassen. Und man muss auch komprimieren, weil es einfach so viele Seiten sind. Aber es wurde nichts dazu erfunden worden.

Sie selbst gehören zum Autorenkreis der zweiten Generation deutsch-jüdischer Familien, die den Holocaust überlebt haben. Empfanden Sie den Anspruch, mit dieser Oper ein Andenken zu schaffen und die große Verantwortung gegenüber dem Thema eher als Triebfeder oder als Hemmschuh?
Ich erlebe das eher als eine Motivation, keinesfalls als Hemmung. Wenn das jetzt Kafka oder ein anderes riesiges Monument wäre, wäre das vielleicht anders. Aber hier geht es ja darum, das ganze in seinem Wert zu steigern, indem man es ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt. Das motiviert mich sehr.

In einem anderen Ihrer Bücher, „Ein Kapitel aus meinem Leben“, haben Sie versucht, sich der Geschichte ihrer Mutter zu nähern. War das heikler?
Ja. Das ist eine ganz andere Geschichte. Das ist mein Buch. Das ist meine Mutter. Und deshalb habe ich mich auch verantwortlich gefühlt. Bei Charlotte Salomon bin ich persönlich nicht involviert. Durch meine deutschjüdische Herkunft identifiziere ich mich zwar ein bisschen mehr damit. Trotzdem konnte ich viel freier an die Sache rangehen als bei der Lebensgeschichte meiner Mutter, was aber nicht heißt, dass ich es auf die leichte Schulter genommen habe.

Würde Sie es als Wagnis bezeichnen, Charlotte Salomons Werk in eine Oper zu verwandeln?
Ich war schon überrascht. Aber andererseits: Warum eigentlich nicht? Ich meine, wenn man Elektra zu einem Opernstoff machen kann, dann kann man das auch mit diesem tragischen Stoff. Tragische Stoffe haben sich ja bewährt für die Oper. Aber ja, ich war schon erstaunt.

Mit all Ihrer Lebenserfahrung, Ihrer Lebensgeschichte und der Auseinandersetzung mit anderen jüdischen Schicksalen – ob es nun die eigene Mutter oder Charlotte Salomon war – können Deutschland oder Österreich jemals wirklich Heimat für Juden werden?
Schwierig. Ich bin weggegangen.

Warum?
Weil mein Mann und ich uns dem Jüdischen mehr öffnen und es auch praktizieren wollten. Das ist in Deutschland nicht so richtig möglich. Jude zu sein schon, aber ein jüdisches religiöses Leben zu führen, eher nicht. Strasbourg hat eine große jüdische Gemeinde. Hier kann man ein praktizierendes Judentum leben, ohne für verrückt zu erklärt werden. Ich komme hier also auf meine Kosten, kann mich mit Gleichgesinnten austauschen, die auch Fragen haben und Antworten suchen. Meine Sprache ist trotzdem Deutsch, meine Bücher erscheinen in Deutschland, und ich bin auch oft dort. Leider bin ich weniger oft ihn Wien, obwohl ich eine besondere Beziehung zu Wien habe. Meine Mutter sprach ja Wienerisch. Ich bin mit diesem wunderbaren Dialekt aufgewachsen.

Haben Sie das Schreiben jemals als Versuch empfunden, die eigene Fremdheit zu überwinden?
Ich bin 1949 geboren und in Berlin als jüdisches Kind jüdischer Eltern aufgewachsen. Ich hatte viele Freunde, deren Väter in der Wehrmacht waren. Das konnte man auf diversen, Familienfotos, die in den Wohnungen herumhingen, nachvollziehen. Allerdings habe ich das nie als tragisch wahrgenommen. Andererseits war ich immer die „Kleine Schwarze“. Und meine Eltern waren älter als die der anderen, kamen aus England zurück und sprachen mehrere Sprachen. Dass ich wo anders herkomme, war allgegenwärtig. Obwohl ich also immer sozial gut eingebunden war, war ich immer auch wein wenig fremd. Vielleicht hat das zum Schreiben geführt, ja.

Sie sind Schrifstellerin. Dennoch pflegen Sie eine innige Beziehung zum Theater. Wie kamm es dazu?
Ich habe Theaterwissenschaften studiert. Und mein Vater war in zweiter Ehe mit Gisela May verheiratet. Meine Kindheit verlief daher parallel zum Anfang von Giselas Karriere. So bin ich in dieser Theaterwelt aufgewachsen. Da ich sehr sozial bin, gerne rede und am Theater immer so viele Leute waren, hatte ich das Gefühl dass ich mich dort verlieren könnte. Mein Mann meinte immer, es geschieht mir schon recht, daß ich so ein einsames Schriftstellerleben jetzt führe.
Heute muss ich sagen: Ich bewundere die Leute, die in diesem Trubel nicht untergehen. Das Theater ist immer eine große Liebe von mir gewesen, aber als Leben konnte ich es nicht bewältigen. Umso schöner ist es jetzt für mich, dass ich durch die Oper wieder ein bisschen damit in Berührung komme.

Sind Sie denn selbst Opernliebhaberin?
(lacht) Ja, aber es ist irgendwie eine unglückliche Liebe, weil ich die Oper liebe, aber die Oper mich nicht wirklich.

Wie darf man das verstehen?
(überlegt) So eine richtig feste Beziehung ist es nie geworden. Ich bin keine Kennerin, sondern eher Amateurin.

Vielen Dank für das Gespräch.