Der Marathon-Mann

Ob rauschfreies Telefonieren oder barrierefreies Wohnen: Olympiasieger Thomas Geierspichler ist seit seinem Weltrekord in Peking ein beliebter Werbe- und Gesprächspartner. Beinahe täglich erhält er Anfragen. Umso schöner, dass er sich für Wüstenrot die Zeit nahm, durch sein Haus zu führen und dabei über Sport, Gott und die Welt zu sprechen.

In Anif bei Salzburg, gegenüber dem elterlichen Hof, hat sich Thomas Geierspichler den ehemaligen Getreideboden ausgebaut. Dort, wo er einst als Kind Fangen spielte und verstohlen durch eine kleine Luke in der Wand auf den elterlichen Hof rüber schaute, ist heute sein Wohnzimmer. Überhaupt hat der Hof, den er übernommen hätte, wäre nicht jener Unfall passiert, der sein Leben auf den Kopf stellte, in den letzten Jahren viele Veränderungen erfahren: Der Stall wurde zu einem Therapiezentrum um- und der östliche Teil des Hofes zu einer Apartmentanlage ausgebaut. Dass sein Heim exakt auf seine Bedürfnisse abgestimmt ist, erzählt der Salzburger, liegt daran, dass er beim Bau dabei war. „Ich hab´ gesagt wie ich es haben will und so wurde es gemacht.“ Auf den ersten Blick sind es nur Kleinigkeiten: Ein kleine Bank in der Dusche, niedrige Armaturen. Auf den zweiten Blick aber summieren sich diese Kleinigkeiten. Das weiß auch Geierspichler: „Im Nachhinein Umrüsten ist das Teure“, sagt er. Sein Tipp daher: „Planen und nicht wild drauf losbauen.“

Ein Spruch lautet: Erst das zweite Haus baut man richtig.
Und das versteh ich überhaupt nicht. Warum baut man nicht gleich so, wie es sein soll? Es muss ja nicht gleich behindertengerecht sein, aber Menschen werden nun mal älter und gebrechlich. Laut Statistik kostet behindertengerechtes Bauen nur zwischen ein und drei Prozent des Gesamtpreises. Das kann sich jeder Häuslbauer leisten. Oft geht es ja nur um Raumgröße, für die man eine Mauer einreißen muss.

Im Behindertensport hast Du auch einige Mauern eingerissen
Mein Traum war immer, dass man die sportliche Leistung unabhängig davon beurteilt, ob jemand behindert ist oder nicht. Jemanden, der ein gutes Buch schreibt, fragt auch niemand, ob er Mann oder Frau, schwarz oder weiß ist.

Wie weit sind wir von diesem Idealzustand entfernt?
Dass ich noch vor Marc Janko Sportler des Jahres wurde, zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind. Die Leute stehen hinter mir und sehen die Leistung und nicht die Behinderung. Im Fernsehen sieht das noch anders aus: Eine Stunde Zusammenfassung von den Paralympics inklusive Eröffnungs- und Abschlussfeier. Hauptsächlich weinende Behinderte, kaum Leistung.

Kann der Druck der Öffentlichkeit etwas bewegen?
Kaum, weil das Meiste von privaten Firmen produziert wird. Aber ich will auch gar nicht, dass sich jemand für meine Leistungen interessiert, weil er muss, sondern aus freiem Herzen.

Langsam beginnt die Tour durch Geierspichlers Reich: Ebenerdig befinden sich Schlafzimmer, Bad und ein kleines Gästezimmer, im ersten Stock, in den man mit einem geräumigen Lift gelangt, das äußerst großzügige Wohnzimmer. Unsere erste Station ist – für eine Hausbegehung wohl eher ungewöhnlich – das Schlafzimmer. Warum das? „Dort bin ich einfach am liebsten. Wenn ich daheim bin, leg ich mich ins Bett und schlafe oder schaue fern. Für den riesigen Flachbildfernseher entschuldigt er sich dann auch gleich: „Ich weiß, das ist ungesund, aber wenn ich den Fernseher im ersten Stock hätte und dann nach dem Abschalten noch mit dem Rollstuhl einen Stock tiefer fahren muss, wäre unten schon wieder munter.“ Klingt plausibel.

Ab wann ging es eigentlich bei Dir los mit den Talkshows?
Richtig eingeschlagen hat es ab Peking mit dem Weltrekord. Da ging es dann Schlag auf Schlag. Es war, als ob Österreich drauf gewartet hätte.

Das war aber doch lang nach Deinen Erfolgen in Sydney und Athen?
Stimmt. Obwohl ich schon in Sydney erfolgreich war und in Athen fünf Medaillen gewann, hat es zehn Jahre gedauert. Da muss man durchbeißen wie beim Haus bauen: Jahre lang schuften, damit man nachher etwas hat, auf das man stolz sein kann. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Hat denn die Orange-Werbung etwas bewirkt?
Die ist schon hängen geblieben. Aber wenn du keine Leistung bringst, funktioniert auch die Werbung nicht. Zumindest nicht, wenn du Sportler bist. Aber dass sich Orange traute, einen Behinderten als Testimonial zu nehmen, war ein großes Risiko und hat sicher viel bewegt.

Risiko?
Viele Leute empfinden Behinderte immer noch als fremd. Und Sponsoring im Behindertenbereich ist ein noch relativ unentdecktes Land. In Sydney hab ich ein riesiges Plakat mit einem australischen Amputierten-Sportler gesehen. Da ist man schon ein, zwei Schritte weiter. Aber dass jemand wie ich neben Tiger Woods und Thierry Henry in der wirklich ersten Reihe stehen kann – davon sind wir noch weit entfernt.

Wie kommt man dort hin?
Indem man miteinander redet. Wen ich merke, dass jemand etwas wissen will, es sich aber nicht fragen traut, spreche ich es einfach selbst an.

Zum Beispiel?
Sex ist immer wieder Thema. Da rede ich sehr offen darüber: Ja, ich kann Sex haben. Ja, ich kann Kinder kriegen. Thema erledigt. Leute, die Behinderten in Alltagssituationen begegnen, fragen sich auch oft, ob sie helfen sollen oder nicht. Da frage ich mich immer: Warum geht man nicht hin und fragt einfach nach? Umgekehrt müssen auch Behinderte lernen, mit solchen Situationen umzugehen und nicht immer erwarten, dass Nichtbehinderte alles wissen.

Du hast einmal gesagt: Wenn man satt ist, hat man keinen Zug nach vorne. Wie schafft man es, trotz Olympiasiegen hungrig zu bleiben?
Ich konzentriere mich auf meine körperliche Heilung und bleibe in Bewegung.

Bewegung ist das Stichwort. Thomas bittet in sein „Penthouse“. Auch der Umstand, dass sich der Wohnraum im ersten Stock befindet, ist für einen Rollstuhlfahrer erst einmal ungewöhnlich. „Pure Absicht“, lacht er. „Wenn man nicht besucht werden will, ist man einfach nicht zu Hause.“ Geierspichlers Wohlfühloase besteht aus einer einladenden Sofa-Ecke, einem offenen Kamin, auf dem australische und asiatische Masken und diverse Auszeichnungen – darunter die zum Sportler des Jahres – thronen.

Nach allem was Du gesagt hast, muss Dir die Wahl zum Sportler des Jahres wichtiger gewesen sein als der Gewinn Deiner Medaillen.
Auf jeden Fall. Natürlich sind die Medaillen die Voraussetzung, aber die Akzeptanz der Menschen in diesem Ausmaß war – wie ich immer sage – ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer für die Menschheit. Als ich auf´s Krone-Titelblatt kam, war mir auch nicht wichtig, dass ich drauf bin, sondern dass ein Behinderter drauf ist.

Mittlerweile sind wir in der offenen Küche angelangt. Auf dem Herd kann man mühelos vom Rollstuhl aus kochen und auch der Kühlschrank und die übrigen Armaturen sind speziell tief ausgerichtet. Dass er das von einem Bekannten gebaute Juwel nicht so oft zum Kochen nutzt, liegt weniger an seinem stressigen Alltag als am Special-Agreement mit seiner Mutter: Er arbeitet, sie kocht. Die Küche nützt er eher zum Plaudern. Dort, wo er sich mit Freunden gern zu einem Glas niederlässt, ist der richtige Ort, um intimere Themen anzuschneiden.

Du bekennst Dich sehr offensiv zu Deinem Glauben. Stößt das nicht manchmal auf Unverständnis?
Und ob. Viele verstehen nicht, dass mein Glaube nur wenig mit der Kirche zu tun hat. Die Kirche tut oft, als hätte sie die Bibel geschrieben und als sei sie das Fundament der Bibel. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Es ist doch so: Viele Leute suchen Spiritualität. Manche finden sie im Buddhismus, ich in der Bibel. In unserem Kulturkreis sind wir nun einmal mit diesem Handbuch des Lebens aufgewachsen und viele ihrer geistigen Grundsätze funktionieren, indem man sie naiv wie ein Kind annimmt.

Zum Beispiel?
Trachte zuerst nach dem Reich Gottes und alles andere wird dir hinzugefügt. Und zwar hundertfach. Danach lebe ich und es funktioniert. Ich schaue, dass ich in meiner Bestimmung lebe, mir Ziele stecke. Dann brauch ich mich um das Rundherum nicht zu kümmern, weil es automatisch passiert. Den Fokus nach vorne richten, nicht Herumärgern und ständig an Kohle denken…
Ich fahre ja auch keinen Weltrekord, wenn ich ihn unbedingt fahren will. Ich fahre ihn, wenn ich gerne fahre, im Kopf frei bin und so schnell fahre, wie es eben geht. Dann passiert der Weltrekord. Erzwingen kann ich ihn nicht.

Das klingt alles eher nach Spiritualität als nach Religiosität.
Genau. Bei der Religiosität stehen die Werke im Vordergrund, um Gott wohlgefällig zu werden. Gott wohlgefällig bist du aber nur, wenn du ihn suchst. Wenn du im Auto in einer Schrecksekunde sagst: Bitte hilf mir! So sucht man Gott.

Das wiederum klingt nach Verzweiflung. Je verzweifelter ich bin, desto mehr suche ich Gott…
Besser als man sucht ihn gar nicht. Der nächste Schritt ist, sich zu bedanken: Für einen coolen Tag, für das Leben… Oft kann man seine Dankbarkeit ja gar nicht in Worte fassen. Und dann glaube ich an Heilung. Das Universum hält unendlich viel Energie und Heilungskraft bereit. Dass wir sie nicht zulassen, liegt an unseren Blockaden im Kopf.

Was genau meinst Du damit?
Wenn jemand querschnittgelähmt ist, heißt das für uns: Er sitzt sein leben lang im Rollstuhl. Das ist so tief in uns verankert, dass man die Heilkraft nicht mehr zulassen kann. Ich glaube an meine Heilung. Irgendwann. Ich hab aber auch kein Problem, wenn es nicht passiert. Bill Gates fing auch in der Garage an. Der hat sich im Kopf nicht limitiert.

Was kommt nach Deiner aktiven Karriere?
Ich habe ein großes Vertrauen, dass zum richtigen Zeitpunkt das Richtige kommt. Irgendwas im Herz wird größer und etwas anderes dafür nebensächlich – der natürliche Lauf der Dinge. So lange mir Gott aber nicht zeigt, dass jetzt Sense ist, mach ich weiter. Das ist meine Pflicht.

Und der sportliche Plan?
Vor Peking hab ich immer gesagt: „Falls ich bis dahin noch nicht gehen kann, werde ich an den Spielen teilnehmen und versuchen eine Medaille zu gewinnen.“ Was ich damit meine: Noch eine Medaille in London zu gewinnen, macht mich nicht glücklicher. Was Wert hat, ist der Moment, in dem ich die österreichische Bundeshymne höre, und das Bewusstsein kommt, durch was ich alles ging, um diesen Moment zu erleben, welche Überwindung, welche Kraft notwendig war und was ich durchmachen musste. Für diese unfassbaren Glücksmomente mach ich das alles.

Aber das ist nicht alles, oder?
Nein. Es ist viel passiert in meinem Leben. Ich will auch, dass das, was ich durchlebe, jemand versteht.

Wenn er noch gehen könnte, wäre er Bauer. Thomas Geierspichler, Jahrgang 76, hätte den elterlichen Hof übernehmen sollen. Dann kam alles anders: Kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag verunglückte er auf dem Heimweg aus der Disco als Beifahrer. Nach zwei Monten erfuhr er, dass er fortan hüftabwärts gelähmt sein wird. Nach Eskapaden mit Alkohol und Drogen fand er schließlich zu Gott – der Beginn einer unglaublichen Karriere: Es wurde fünfmal Weltmeister, sechsmal Europameister und ist amtierender Paralympicssieger über 1500 Meter und im Marathon. Über die Marathon-Distanz ist er außerdem Weltrekordhalter.
Den Wien-Marathon allerdings wird er auch heuer nicht fahren. Angeblich, weil es zu gefährlich ist.
Geierspichler trainiert täglich vier bis sechs Stunden und hält Motivationsvorträge.
Seine oberste Priorität lautet: Bodenständigkeit und Wahrhaftigkeit.