Das schnelle Vergessen
Warum uns das Leid von Menschen, die in weit entfernten Ländern leben, alle etwas angeht.
Raubmord, Entführung, Erpressung… Was die heimischen Medien aus Kolumbien zu berichten wissen, gibt selten Anlass zur Freude. Der Versuch, sich vor Reiseantritt in der Online-Ausgabe Österreichs angeblich bester Zeitung rasch einen Überblick über die jüngste Geschichte des Landes zu verschaffen, scheitert dann auch kläglich. Im Suchzeitraum von ganzen zwei Jahren findet sich außer Fußballergebnissen nur eine einzige Meldung: Einer amtierenden Schönheitskönigin wurde ihr Titel aberkannt, weil man ihr ein Naheverhältnis zur Drogenmafia nachweisen konnte. Kein Wahlergebnis, keine einzige Meldung von politischer Relevanz, nur Fußball und fragwürdige Sensation.
Wie selektiv unsere durch Medien gesteuerte Wahrnehmung ist, zeigen die nackten Zahlen: Oder wussten Sie, dass in Kolumbien zwischen 1996 und 2009 etwa 30.000 Menschen jährlich und aus den unterschiedlichsten Gründen, auch politischen, ermordet wurden? Wussten Sie, dass allein in den Jahren 2003 bis 2009 353 Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter ermordet wurden?
Wussten sie, dass Mord trotz der wahnwitzigen Zahl von insgesamt 3.000 Staatsanwälten und einem Generalstaatsanwalt in Kolumbien oft als Privatanklagedelikt behandelt wird? Das heißt: Bei Mord wird zwar von Amts wegen ermittelt, aber nicht unbedingt. Die Angehörigen müssen vielmehr einen entsprechenden Verfolgungsantrag stellen, den sie allerdings selten stellen, weil sie sonst mit Drohungen der Täter und falls diese nicht ausreichen, um die Antragsteller mundtot zu machen, mit Gewaltakten zu rechnen haben. Stellen Sie sich vor, ihr Kind wird getötet und Sie werden, weil sie Gerechtigkeit wollen, mundtot gemacht. Unvorstellbar? Das kann es nicht geben?
Und ob: Sandra aus Sierra Morena hat genau dieses Schicksal ereilt. Sandras Sohn wurde vor etwa einem Jahr von zwei Polizisten kaltblütig erschossen, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die beiden „Ordnungshüter“ hatten irrtümlich geglaubt, er wolle sich ein Stück ihres „Drogenkuchens“ sichern, und nicht lange gezögert. Wer dem „Topf“ („olla“)– so nennt man im Volksmund die Plätze, an denen Drogen umgesetzt werden, zu nahe kommt – wird umgehend kaltgestellt. Sandras Sohn war sofort tot gewesen, wie man ihr versicherte. Fälle wie diesen lässt man also aus Angst, sich durch einen Verfolgungsantrag selbst zur Zielscheibe zu machen, meist auf sich beruhen.
Nicht so Sandra. Zu groß war das Verlangen, die Mörder ihres Sohnes zur Rechenschaft zu ziehen. Und so schob sie die Vernunft wie einen ihrer Töpfe beiseite und stellte den Antrag. Doch ihr Fall lag noch komplizierter als viele vergleichbare. Da die Mörder Polizisten waren, bewirkte Sandras Antrag nämlich, einen ganz wesentlichen Teil der Polizei – nämlich den, der korrupt ist – gegen sich aufzubringen. Schon Wochen später musste sie einsehen, dass sie mit ihrer mutigen Tat vielleicht doch einen Fehler begangen hatte, denn die Drohungen hatten nicht lange auf sich warten lassen. Und schließlich musste sie ihr Viertel verlassen, um nicht Verwandte und andere Leute, die ihr nahe standen, in Lebensgefahr zu bringen.
Doch damit nicht genug: Denn es stellt sich die Frage, wie lange Sandra noch an ihrem Arbeitsplatz als Köchin einer sozialen Einrichtung tragbar ist. Wenn sich herumspricht, wo sie arbeitet, wird das Risiko, dass sie Ziel eines Anschlags wird und dadurch einen oder mehrere der Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz ständig in ihrer Nähe sind, in Gefahr bringt, vielleicht zu groß und man muss sich, um sich zu schützen, von ihr trennen.
Noch ist es nicht so weit. Noch lebt man in Sierra Morena einigermaßen sicher, bei CES Waldorf, gerade weil dort die Kinder aller Bewohner in den Kindergarten gehen. Dadurch ist CES Waldorf so etwas wie eine von allen Seiten und Konfliktparteien respektierte Tabuzone.
Aber das Eis ist, wie man sehen kann, mitunter dünn. Auch Tabus können jederzeit gebrochen werden. Es ist wie die Ruhe vor dem Sturm, der jederzeit ausbrechen kann. Unvorstellbar, dass uns respektive unsere Medien das alles scheinbar wenig bis gar nicht interessiert.
Zurück zur Recherche: Geht man in seiner Suche nach brauchbaren Artikeln über Kolumbien in österreichischen Medien zeitlich weiter zurück und bindet auch andere Zeitungen ein, lässt sich schon ein gewisser Trend ablesen: Brauchbares findet sich nur in Fachzeitschriften, so genannten „Special Interest“-Magazinen, und dort nur eher selten, während die Berichterstattung in der Tagespresse hierzulande durch Katastrophen und Kuriositäten bestimmt ist. Mord und Models, Drogen und Willkür, Fußball und Fragwürdiges. Dass Menschen leiden, sterben, scheint uns schlichtweg nicht zu interessieren. Was mag wohl schuld sein an dieser selektiven Wahrnehmung? Ein generell eurozentrisches Weltbild? Ignoranz?
In einem Interview lieferte ein renommierter Atomphysiker mir gegenüber mal eine, vielleicht die einzig plausible Erklärung dafür: Er nannte es „die Halbwertszeit des Vergessens“. Was er damit meinte, war: Selbst die größte aller Katastrophen, der Supergau in einem Atomkraftwerk etwa, interessiert uns nur ganze drei Wochen, so seine Einschätzung. Sobald die größte Gefahr für Leib und Leben gebannt ist – und das dauerte in Fukushima seiner Beobachtung nach etwa drei Wochen – ist das Thema vom Tisch und wir verschwenden keinen Gedanken mehr daran, was aus Land und Leuten wurde. Wir brauchen neue Sensationen, neue Katastrophen. „Die Halbwertszeit des Vergessens“ – bei einem Supergau beträgt sie also drei Wochen. Bei kleineren Katastrophen liegt sie deutlich darunter. Noch niedriger allerdings liegt sie, wenn sich die Katastrophen häufen und das Elend ein prolongiertes, ein ständiges ist. Wozu noch über den Kongo, den Sudan oder Afghanistan berichten? Dass dort täglich Leute sterben, ist hinlänglich bekannt. Der Informationsgehalt neuer Greueltaten wird als so gering erachtet, dass wir ganze Länder, ganze Kontinente aus unserer Wahrnehmung verbannen. Besser wir blenden aus und vergessen, um so weitermachen zu können wie bisher.
Indem wir aber solchermaßen selektieren, überlassen wir die Menschen in diesen Ländern – und letztlich geht es immer um Menschen – sich selbst. Ganze Landstriche und Länder versinken im Chaos, ohne dass uns das groß beunruhigen würde.
In diesem selektiven bzw. bewusst auswählendem Umgang mit Elend und Unmenschlichkeit liegt ein großes Missverständnis begraben: Gewisse Dinge – möchte ich behaupten – kann man einfach nicht vergessen, wenn man sie einmal gesehen hat. Und zwar nicht im Fernsehen, sondern „live“, vor Ort. Gewisse Dinge brennen sich, so man sie wirklich gesehen oder in einem glaubhaften Bericht darüber gehört oder gelesen hat, in die Netzhaut, in unser Gedächtnis ein, um dort für immer ihr Unwesen zu treiben.
Die „Halbwertszeit des Vergessens“, diese geringe Zeitspanne an Aufmerksamkeit, die wir Dingen entgegen bringen, gilt damit nur für all jene, die nie vor Ort waren, die nie in Fukushima waren, und gesehen haben, wie die Menschen dort um ihre letzte Würde kämpfen, die nie in Honduras oder im Sudan waren, und gesehen haben, wie sich dort Kinderarmeen gegenseitig ausradieren, und die nie gesehen haben, aus welchen Lebensverhältnissen die von CES Waldorf und all den anderen in diesem Buch vorgestellten Kindergarten- und Schulprojekten auf anthroposophischer Grundlage betreuten Kinder herkommen und wo sie wären, würde man sich dort nicht um sie kümmern.
Und genau darin liegt nun unser aller menschliche Pflicht: gemeinsam gegen die selektive Wahrnehmung, gegen das schnelle Vergessen anzugehen, indem wir dafür sorgen, dass das Unrecht, das dort Tag für Tag geschieht, bekannt wird, und indem wir – noch wichtiger – beschreiben und so erfahrbar machen, was konkret gegen dieses Unrecht getan wird, und dass es genau deshalb nicht hoffungslos ist, weil täglich Menschen unter schwierigsten Bedingungen und unter Einsatz all ihrer Kraft dafür kämpfen, dass es irgendwann einmal besser wird. Diesen Kampf gilt es zu beschreiben und erfahrbar zu machen, denn er ist kein „Special Interest“. Ganz im Gegenteil: Er geht uns alle an. Genau deshalb haben wir dieses Buch gemacht. Weil wir hoffen, mit ihm einen Teil des Kampfes erfahrbar zu machen.