Kurz vor dem großen Sturm

„Hallo, hört ihr euch eigentlich zu?“ fragt uns der Schriftsteller und Polit-Aktivist Ilja Trojanow. Ein Gespräch über Sicherheitswahn, dekadenten Zeitgeist und die Lust am Genozid.

In seinem Essay „Der überflüssige Mensch“ beschäftigt sich Ilja Trojanow mit der Entwertung des Menschen durch Technisierung und Automatisierung. „Überflüssig“ erachteten offenbar auch die US-Einwanderungsbehörden den Erfolgsschriftsteller, als sie ihm trotz gültigen Visums ohne Nennung von Gründen die Einreise zu einem Germanisten-Kongress verweigerten – eine Aktion, die wie kaum eine andere dieses Jahr eine breite mediale Diskussion über Bürgerrechte entfachte und der Trojanow deshalb nachträglich nur Gutes abgewinnen kann. Mittlerweile hat er – abermals ohne Angabe von Gründen – ein Langzeitvisum erhalten. Ein unangenehmer Nachgeschmack bleibt dennoch zurück. Doch ist es tatsächlich so einfach? Der unangenehme Intellektuelle da, die Post-Demokratie, der jeder einzelne ebenso ausgeliefert ist wie der Diktatur, dort?

„Die Gesetze des Marktes markieren die Grenzen der Freiheit“ schreiben Sie in „Der überflüssige Mensch“. Insofern ist es doch fast folgerichtig, dass Ihnen als jemandem, der genau das kritisiert, von einem Staat, der nur noch den Gesetzen des Marktes gehorcht, die Einreise verweigert wurde?
Da gibt es wie so oft eine generelle und eine spezielle Sichtweise: Grundsätzlich ist unser Demokratieverständnis, wonach wie alle vier Jahre wählen dürfen, sonst aber die Macht bei Großkonzernen und anderen Spezialinteressen und ihrer Einflussnahme auf die Parlamente liegt, extrem limitiert. Dennoch vertraut der einzelne im Speziellen darauf, dass er im Rahmen des noch existierenden Rechtsstaates halbwegs legal und damit gerecht behandelt wird. Für die Einreise in einen Staat wie die USA gibt es ganz klare Regularien. Und nach denen war es einfach Unrecht, mich am Besteigen des Flugzeuges zu hindern.

Aber ist dieses Vertrauen, wenn man sieht, wie willkürlich man sich im Einzelfall über existentes Recht hinwegsetzt, nicht hinfällig?
Das Vertrauen ist nicht gerechtfertigt, wenn man daraus den Schluss zieht, wir hätten einen funktionierenden Rechtsstaat und könnten uns deshalb zurücklehnen. Es geht aber darum, wie man mit den Widersprüchlichkeiten umgeht. Wie verteidigt man eine zivilisatorische Leistung? Heute erleben wir mit Guantanamo aber auch in der Flüchtlingspolitik, dass Leute eingesperrt werden, ohne dass man weiß wie lange und ohne dass sich der Staat groß dafür rechtfertigen müsste. Ohne den Staat zu idealisieren, ist es als Autor oder Journalist wichtig darauf hinzuweisen, dass es gewisse staatliche Errungenschaften, den Habeas Corpus etwa, gibt, die man allerdings statt sie weiter zu entwickeln, einfach wieder abbaut.

Morton Rhue, Autor des Buches „Die Welle“, dem man allein dadurch schon eine gewisse Sensibilität für das Thema Demokratie & Diktatur zutrauen sollte, saß neulich in einer Literatursendung des ORF und rechtfertigte dort – weitgehend unwidersprochen – die Überwachung des Bürgers durch die NSA pauschal mit 9/11. Warum sind Intellektuelle, wenn es um diese demokratischen Errungenschaften geht, plötzlich so unempfindlich? Ist das Angst oder Dummheit?
Ohne Herrn Rhue nahetreten zu wollen, ist ein Romancier per se noch kein Intellektueller. Die Schriftstellerei ist zuallererst eine achtenswerte handwerkliche Fähigkeit. Das aber heißt noch lange nicht, dass man auch imstande ist, die Gesellschaft kritisch zu analysieren. Dass nach 9/11 eine neue Welt der Überwachung und der Kontrolle eingeführt wurde, ist einfach unwahr. Vielmehr wurde das bereits existierende System durch eine Anschubfinanzierung ausgebaut. Und die Profiteure dieses Sicherheitswahns fahren jetzt unglaubliche Rendite ein. Und der eingeschlagene Weg ist – das bestätigen alle Sicherheitsfachleute – auch nicht der richtige, um Terrorismus zu bekämpfen. Man braucht einen enormen Apparat – mittlerweile arbeiten in den USA prozentuell gesehen mehr Leute für die Staatsicherheit als damals in der DDR, und darüber, was das mit einem Staat anstellt, wenn so viele Leute für die STASI arbeiten, sollte man sich ernsthaft Gedanken machen. Dieser enorme Apparat soll, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich sucht, die Datenakkumulation finden soll, die eine Gefahr darstellt. Das ist das genaue Gegenteil von Sicherheitspolitik. In diesem Heuhaufen findet man doch nichts mehr. Wenn es wirklich um unsere Sicherheit vor terroristischen Anschlägen ginge, müsste man sich die Frage stellen, was man mit all diesem Geld, das in den Apparat gesteckt wird, konkret gegen den Terrorismus tun könnte.

Wenn es nicht um Terrorbekämpfung geht, warum gibt es diesen Apparat dann?
Weil es extrem schwer ist gegen Propaganda anzukämpfen. Meine Erfahrung ist, dass diese Maschinerien wie Taifune sind, die alle bestehenden Erkenntnisse wegfegen, sodass man wieder von vorne beginnen muss. Nach jedem Terroranschlag passiert das Selbe: Eine Mischung aus Panik, blindem Aktionismus und Dummheit greift um sich. Da ist es extrem schwer, die Diskussion auf das zurückzuführen, worum es eigentlich geht. Zusätzlich dazu sind Bürgerrechte in der Wahrnehmung der Bürger ein trockenes Thema.

Die Tatenlosigkeit der deutschen Bundesregierung in Sachen NSA ist evident. Noch tatenloser allerdings ist man in Österreich. Davon, dass es ähnliche Übergriffe hierzulande gab und gibt, ist auszugehen. Ist es hier um die Bürgerrechte und die demokratische Grundeinstellung noch schlimmer bestellt als in Deutschland?
Ich vermute schon. Den ersten Fehler machen wir, wenn wir glauben in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu leben. Wichtiger als die Verfassung und das politische System ist nämlich die Haltung. Freiheit ist nichts, was sich institutionalisieren lässt. Natürlich ist es gut, wenn sie in der Verfassung verankert ist. Viel wichtiger aber ist, wenn sich die Menschen als freie Subjekte empfinden und dadurch allergisch auf alle Versuche einer Einschränkung reagieren. Mit der demokratischen Verfasstheit in unserem Land aber sollte man keine Illusionen haben. Die meisten Menschen sind doch in extrem durchherrschte Arbeitsverhältnisse eingebunden. Der Lauschangriff, den wir hier jetzt am Beispiel der NSA-Übergiffe diskutieren, ist in der Privatwirtschaft längst etabliert. In großen Konzernen werden alle Räume überwacht. Jeder Computer und damit die Arbeitseffizienz jedes einzelnen wird überwacht. Das hat zur Folge, dass sich der einzelne alles andere als frei fühlt. Und so ist es schwer vorzustellen, dass er am abend nach Hause kommt und dann plötzlich seine Freiheit auspackt, d.h. sich im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gar nichts sagen lassen will.

Revolution ist für die meisten ein Begriff, der geradezu unfassbar weit weg ist. Ist das nicht ein riesiger Irrtum? Sollten wir nicht Bewusstsein leben, dass das Eis, auf dem unsere Zivilisation aufbaut, sehr dünn ist?
Ich bin gar nicht sicher, ob wir uns Revolution nicht vorstellen können oder nur eine ganz bestimmte Form der klassischen gesamtgesellschaftlichen Revolution. Spezifische Revolutionen werden ja konstatiert. Zu Recht, denn was bestimmte technologische Entwicklungen mit sich brachten, war revolutionär. Wieso man aber davon ausgeht, dass revolutionäre technologische Entwicklungen nicht auch zu revolutionären sozialen Entwicklungen führen, ist mir schleierhaft. Das ist dem dekadenten Zeitgeist geschuldet. Dass man davon ausgeht, alles wäre starr, ist eine besondere Form der Dummheit, denn nichts ist evidenter als dass ständig überall Veränderung passiert. Wir leben in Zeiten, in denen die inneren Widersprüche des Systems enorm sind, und das ist eine absolute Notwendigkeit jeder Revolution. Andererseits gibt es da diese große Lethargie, eine Apathie und Ratlosigkeit. Dieser Widerspruch ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Ich denken, wir befinden uns kurz vor dem großen Sturm.

Was genau meinen Sie damit?
Um diese enormen Datenmengen speichern und bearbeiten zu können, hat die NSA ein riesiges Daten-Center in Bluffdale/Utah gebaut. Der Strombedarf dieses Datenwerks ist so enorm, dass man die Eröffnung wegen mehrerer System-Kurzschlüsse bis zum heutigen Tage zwei Mal verschieben musste. Derart labile Systeme zum Einsturz zu bringen, ist doch denkbar einfach. Dafür braucht es vielleicht fünf Leute, die ein bisschen was von Sabotage verstehen. Und genau das ist es auch, was in unserer Gesellschaft oft übersehen wird: Unsere Welt ist enorm labil. Die meisten Formen von Kontrolle und Herrschaft sind labil. Das einzige, was sie am Leben hält, ist diese Apathie. Aber das kann sich schnell ändern.

Apropos Apathie: Sie sprechen in Ihrem Buch vom Genozid durch Unterlassung. Der einzelne mache sich durch Duldung am Massensterben (etwa in Afrika) schuldig. Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, um dem ständigen Wegschauen ein Ende zu bereiten?
Diesbezüglich hatte ich schon heftige Diskussionen mit Aktivisten, die oft der Meinung sind, die Gesellschaft sei schon ausreichend informiert. Ich bezweifle das. Es kommt darauf an, welche Qualität die Information hat. Hat sie die Qualität etwas zu verändern oder geht sie in diesem Strom, der täglich durch uns durch fließt, auf. Das Problem an Information ist doch, dass sie nicht automatisch zu Empathie führt. Upton Sinclair hat einmal gesagt, nichts sei schwieriger ist als einen Menschen von einer Wahrheit zu überzeugen, die seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen zuwider läuft.

Der letzte Satz Ihres aktuellen Buches lautet: „Unter dem Zwang, unentwegt zu funktionieren und zu konsumieren, fällt es uns zunehmend schwer, Empathie zu spüren, Glück zu empfinden.“ Das klingt fast wie eine Entschuldigung, weiter untätig zu bleiben.
Ich versuche einfach zu analysieren, warum wir so ticken wie wir ticken. Fakt ist: Noch nie haben wir so viel Ressourcen verbraucht. Unser Wohlstand hat ja auch sehr viel damit zu tun, dass andere Menschen für sehr wenig Geld ihren Beitrag dazu leisten. Noch nie also waren wir auf Kosten anderer so überprivilegiert. Noch nie aber auch haben wir uns so unglücklich gefühlt und so viel von Krise geredet wie heute. Das ist das große Paradoxon. Wir haben sehr viele Leute in unserer Gesellschaft, die ständig unter Druck sind und funktionieren müssen, sich daher nicht als Gewinner, sondern als potenzielle Verlierer sehen. Das Zusammenspiel von Überprivilegierung und Krise ist ein ganz merkwürdiges.

Sie sagen auch – ich zitiere: „Wenn man das Privileg hat, keinen existenziellen Überlebenskampf führen zu müssen, sollte man sich nicht in seiner Privatsphäre einigeln.“ Das klingt wiederum nach einer klaren Aufforderung, dagegen anzugehen.
Da geht es mir um die so genanten Gutmenschen, die behaupten, das Elend nicht mehr zu ertragen. Hallo, hört ihr euch eigentlich zu? Wie kann es sein, dass einen die existenziellen Sorgen der anderen, mit denen man erst mal nichts zu tun hat, deprimieren? Wer keine Sorgen hat, hat auch kein Recht darauf, sich deprimieren zu lassen. Im Gegenteil: Dann hat man die erstaunliche Freiheit, sich mit den Problemen der Welt auseinander zu setzen. Man hat Freiräume und diese Freiräume muss man nutzen.

Sie nehmen also den neuen Biedermeier in die Pflicht?
Es ist doch erstaunlich, wie gemütlich es sich die Leute eingerichtet haben in der Meinung, es sei eh schon alles zu spät. Das wollte ich ja auch in dem Kapitel über die totale Dominanz der Dystopien in der Populärkultur zum Ausdruck bringen.

Das einzige Kapitel Ihres Buches, das ich nicht ganz nachvollziehen kann.
Wieso?

Weil ich glaube, dass es in diesen Zombie-Endzeitvisionen weniger um Ausgrenzung als um die Lust geht, das Böse greifbar vor sich zu haben und es bekämpfen zu können. Diese Klarheit ist uns ja ziemlich abhanden gekommen, oder nicht?
Schon, aber die Serie „Walking Dead“ beginnt – wie auch all die anderen Filme und Serien dieser Art – damit, dass es eine Form von Apokalypse gibt. Und das halte ich für eine unglaubliche Provokation. Das bedeutet doch, dass ein Großteil der Menschheit vernichtet wurde. Der größte Genozid aller Zeiten fand also statt. Und danach geht es relativ frivol und spannend zu. Wenn man sich überlegt, wie groß die Traumatisierung nach dem Holocaust war, ist diese Lust am Genozid ein schwer zu nachzuvollziehendes Phänomen. Ähnlich phänomenal ist auch der Satz, den ich immer wieder zu hören kriege: „Was willst du eigentlich? Ist doch eh keine Demokratie, was wir da haben.“ Das sichere Wissen also, dass eine gerechte Gesellschaft völlige Utopie ist. Die Zivilisation geht zu Ende, na und? Gerechtigkeit gibt es nicht, na und? Das sind Abfindungen, die horrend sind.

Von der Apokalypse zur Vision: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen, hat Altkanzler Helmut Schmidt einmal gesagt. In Ihrem Buch haben Sie diesen Satz abgewandelt in „Wer keine Visionen hat, sollte zum TÜV gehen.“ Spricht daraus auch der Ärger über die Linke, die sich irgendwann voll und ganz in diesem nüchternen Pragmatismus diktatorischen Einschlags, den Schmidt verkörpert, verschrieben hat?
Gegenfrage: Gibt es überhaupt noch Linke? Links zu sein bedeutete für mich immer utopische Entwürfe zu generieren oder daran zu glauben. Daraus ergibt sich progressives Verhalten. Das große Versagen der Linken ist doch, dass sie sich die utopische Butter vom Brot nehmen ließen, und diese dominante Lüge, wonach Utopie zwangsläufig zu Diktatur und Totalitarismus führt, akzeptiert zu haben. Das ist hanebüchen. Viel mehr ist sie die Folge von Ressentiments, Rassismus und Kapital. Utopisches Denken dagegen ist notwendig.

Wie stellen Sie sich das vor? Soll jeder einzelne Utopien entwickeln?
Nein. Das ist die Aufgabe von Freidenkern: Künstler, Autoren… Die Standard-Chefredakterin hat mir unlängst erzählt, dass 90% aller Leute, die ihr Abo kündigen, als Grund dafür Zeitmangel angeben. Nun wissen wir aber, dass unsere Gesellschaft relativ viel Freizeit hat. In Wahrheit ist es eine Frage der Priorität. Während manche Tätigkeiten in der Freizeit als Muss wahrgenommen werden, gehört sich politisch zu bilden und radikal zu denken offenbar nicht dazu.

Eine Ihrer Visionen ist es, in den Menschen und nicht in Software zu investieren. Wie realistisch ist diese Vision angesichts stetig gekürzter Bildungs-Budgets?
Im Moment ist das natürlich nicht realistisch. Und weil ganz klar erkennbar ist, dass es nur noch über die Zurichtung des Individuums als effizientes Objekt in der Wirtschaft geht, müssen wir auch das ganze kranke System überwinden. Ich kenne niemand, der an der Uni arbeitet und nicht erzürnt und enttäuscht ist. Wahrscheinlich ist auch das einmalig in der Geschichte: Dass sich die gesamte akademische Elite darüber einig ist, dass der Weg, den wir beschreiten, vom profunden Denken weg führt.

Sehen Sie das als Kollateralschäden eines Systems, das kurz vor dem Kollaps beginnt sich auf das Wesentliche zu reduzieren?
Ja, aber Kunst und Bildung galten immer schon als Art Luxus. Dass Eliten überversorgt werden, hingegen nie.

Die Konzentration des Geldes in den Händen weniger ist in Österreich viel weiter fortgeschritten als in Deutschland, wie sie in Ihrem Buch belegen. Wieso stört das niemanden?
Es ist mir ehrlich gesagt schleierhaft. Eine Erklärung könnte sein, dass der Reichtum hierzulande schwer sichtbar ist und der kausale Zusammenhang zwischen Anhäufung auf der einen und Mangel auf der anderen Seite, den man für soziale Rebellion immer braucht, deshalb nicht spürbar ist.
In der Regierungspropaganda wird immer noch extrem erfolgreich behauptet, es sei ganz allgemein kein Geld da. Alle müssten deshalb den Gürtel enger schnallen. Das glauben dann die meisten. Schon als Metapher ist das aber absurd: Wenn jemand, der 300 Kilo hat, den Gürtel enger schnallen soll, dann ist das für ihn gesundheitsfördernd. Für einen chronisch Unterernährten aber ist es lebensgefährlich. Dass es abermals gelang, die Schaffung einer Vermögenssteuer zu verhindern, ist nur durch erfolgreiche Propaganda der Vermögenserhaltungsindustrie zu erklären.