Die innere Bewegung
Einmal mehr erzählt „Charlotte Salomon“ die Geschichte eines tragischen deutschen Schicksals. Doch die auf Salomons Tagebuch in Bildern „Leben? oder Theater?“ basierende Oper von Marc-André Dalbavie erzählt auch von der Beschwörung der Kunst als allerletzten Ausweg. Die musikalische Wiederentdeckung eines radikalen Aufbäumens gegen die Vernichtung.
21 Jahre alt war die junge jüdische Künstlerin Charlotte Salomon, als sie von ihrem Vater infolge der Pogromnacht vom 9. November 1938 von Berlin nach Südfrankreich geschickt wurde. Charlottes Vater, dem Konzentrationslager selbst nur durch glückliche Fügung entgangen, wollte sie dort bei ihren Großeltern und deren Freunden in Sicherheit bringen. Ein tiefer Einschnitt ins Leben der jungen Deutschen.
Doch das behütete Leben der 1917 in Berlin geborenen Charlotte hatte schon viel früher ein jähes Ende gefunden: 1933, sie ist gerade sechzehn Jahre alt geworden, sieht sie sich an ihrer Schule antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Sie weigert sich, die Schule weiter zu besuchen. Einen Ausweg bietet die Hochschule für Bildende Künste, an der sie Aufnahme findet. Doch auch dort geschieht ihr schon bald Unrecht: Ein ihr zugesprochener Akademiepreis wird ihr nachträglich wieder aberkannt, weil sie Jüdin ist.
Man kann sich die Erleichterung vorstellen, die Charlotte empfand, als sie vom nationalsozialistischen Berlin in das „Eremitage“ genannte Refugium in Villefranche kam. Doch auch vor dem Landhaus mitsamt seinem Garten aus bunten Blumen, Pfefferbäumen und Zypressen macht der Krieg nicht Halt: Aus Angst vor den näher rückenden Truppen Nazideutschlands stürzt sich ihre Großmutter aus dem Fenster.
„Die Großmutter weint nicht, aber ihr Blick scheint in die tiefsten Tiefen der Welt einzudringen“, schrieb Charlotte noch kurz zuvor.
Als sie vom Großvater erfährt, dass schon ihre leibliche Mutter, die gestorben war, als sie neun Jahre alt war, ihrem Leben auf die gleiche Weise ein Ende gesetzt hatte, läuft Charlottes Leben, das sie inmitten der überbordenden Natur gerade zu genießen begann, abermals aus dem Ruder: Das Zusammenleben mit dem Großvater wird unerträglich. Und die politische Lage verschärft sich Tag für Tag.
Sie selbst stürzt in eine tiefe existenzielle Krise. „Alle Menschen wurden mir zu viel, ich musste noch weiter in die Einsamkeit, ganz fort von allen Menschen“, schreibt sie. Als ob sie die Kürze der ihr verbleibenden Zeit geahnt hätte beginnt sie wie manisch an einem Bilderzyklus zu arbeiten. Was sich in den letzten Jahren in ihr aufgestaut hat, bricht plötzlich aus ihr heraus. Ihr Leben in Bildern und Texten bahnt sich seinen Weg. Tausend Gouachen schafft sie in knapp zwei Jahren. Dabei schläft sie kaum, isst und trinkt nur unregelmäßig. Ein 22 Jahre junges Mädchen, empfindsam, klug und einsam, malt um ihr Leben.
„Interessanterweise versucht sie dabei, einen möglichst objektiven Standpunkt einzunehmen, erzählt Johanna Wokalek, die Charlotte Salomon in der Salzburger Inszenierung auf Deutsch sprechen wird. Oft würde eine Szene aus dreierlei Perspektiven gemalt. „Beinahe szenisch wie ein Regisseur im Theater oder wie Storyboards beim Film“, so die Burgschauspielerin, die nach vielumjubelten Rollen als Gudrun Ensslin und die Päpstin auf isolierte Frauen-Charaktere geradezu abonniert scheint.
Etwas Verrücktes, Besonderes
„Das Berührende an Charlotte Salomon ist ihre persönliche tragische Familiengeschichte in den letzten Kriegsjahren innerhalb Deutschlands und Frankreichs “, so Wokalek, „ihre Familiengeschichte und die äußeren Umstände stehen in einem schrecklichen Spannungsverhältnis zueinander. Man kann sich vorstellen, wie beängstigend und bedrohlich die Situation insgesamt für sie war. Zu Hause ließ man sie z.B. zunächst in dem Glauben, ihre Mutter sei an einer Grippe gestorben und sie erfährt erst viel später, dass sie sich umgebracht hat. Nach und nach erfährt sie wie viele Verwandte sich in der Familie mütterlicherseits umgebracht haben. Das wird zu einer Bedrohung, die wie ein Damokles-Schwert über ihr schwebt.“ Wokalek spricht jetzt schneller. Die sonst so ruhig und besonnen wirkende Schauspielerin hat Fahrt aufgenommen. „Charlotte sieht sich vor die Frage gestellt“, sagt sie und es wirkt beinahe, als sei sie schon in der Rolle, „sich auch das Leben zu nehmen, oder etwas ganz Verrücktes, Besonderes zu tun. So hat sie es formuliert. Sie entscheidet sich für das „ verrückt Besondere“, sie zeichnet ihr Leben auf. Völlig frei im Zugang und in der Wahl der Ausdrucksformen und Mittel.“
Die Kunst dient ihr als letzter Ausweg. „Kunst“, schrieb Salomon auf eines ihrer Blätter, „ist nichts anderes als sich hinzugeben, um so vielleicht dem Alleinsein, dem jeder Mensch unterworfen ist, zu entfliehen.“ Doch die Katastrophe ist unausweichlich: Im Februar 1943 stirbt der Großvater. Nun ist sie ganz allein. Einzig Alexander Nagler, ein Exil-Österreicher steht ihr zur Seite. Die beiden kommen sich, auch weil Nagler viel Interesse an Salomons Kunst zeigt, näher. Sie verlieben sich und heiraten. Das Glück währt nicht lange: Im Mai 1943 werden sie getraut. Im September bereits besetzen deutsche Truppen die Cote d ´Azur. Am 21. September 1943 werden die beiden gegen 7 Uhr früh von der Gestapo abgeholt und auf einen Lastwagen geworfen. Sie sollen beide in Auschwitz sterben.
„Es gehört zu meiner Eigenschaft als Mensch unter Menschen, sie an das Leid, das man zu unserer Zeit so gerne sterben lässt, zu erinnern“, schreibt Salomon während ihrer manischen Phase. Und so werden wir heute in einer Oper erinnert, können an diesem so außergewöhnlichen wie außergewöhnlich kurzen Leben einer äußerst begabten, sensiblen Künstlerin in einer der grauenvollsten Perioden der Menschheitsgeschichte teilhaben. Und wir sind gebannt von der Wucht dieses Schicksals.
In dem Moment, in dem er das Tagebuch in Bildern und Berichten das erste Mal in Händen hielt und sich darin vertiefte, erzählt der Religionsphilosoph Paul Tillich im Vorwort des Tagebuches, „hörte die äußere Bewegung auf und eine innere setzte ein.“ Er habe sich selten so hineingezogen gefühlt in ein fremdes Schicksal. Einfach, weil es nicht fremd war. „Es war das übergreifend Allgemeine“, schreibt Tillich, das ihn packte. Es ist das zutiefst Menschliche, das unser Innerstes bewegt.