Mahler-Szenen
Gefeiert, geliebt, gehasst. Zu seiner Zeit war Gustav Mahler ein Pop-Star der klassischen Musik. Heute, nach seiner Wiederentdeckung, ist er es wieder. Wie aber nähert man sich dem Mythos, dem Unfassbaren? Indem man die größten Fans befragt. Ein Road-Movie ins Herz der symphonischen Revolution.
Mexico City, 1983.
Ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren wartet sehnsüchtig auf ihre erste Chorprobe. Am Anfang ihrer Ausbildung am Konservatorium steht sie, und auf dem Programm steht Mahlers Zweite. So wie die anderen Sänger und Sängerinnen auch ist sie hin und hergerissen zwischen Vorfreude und Nervosität. Schließlich gilt Mahler gemeinhin als Herausforderung, und vor allem die Zweite habe es in sich, so die Kollegen. Ihr selbst sagt der Komponist aus dem fernen Österreich nichts. Freilich, seinen Namen hat sie schon einmal gehört, seine Musik jedoch nicht. Noch nicht. Wenig später tritt der Chorleiter auf und bittet um Aufmerksamkeit. Augenblicklich wird es still im Konzertsaal Nezahualcoyotl. Nicht er, sondern ein seltsamer Mann aus den USA werde die Symphonie mit dem Chor einstudieren, erzählt er. Ehemals Banker an der Wall Street, habe er seinen Beruf aufgegeben, um sein Leben ganz Mahler zu widmen. Gilbert Kaplan heiße er, dirigiere seit mehreren Jahren weltweit erfolgreich Mahlers Zweite, und morgen schon lande er in Mexikos Hauptstadt.
Das junge Mädchen ist verwirrt. Was für sein seltsamer Mensch mag dieser Kaplan wohl sein, fragt es sich. Vor allem aber: Welche magische Kraft muss von der Musik Mahlers ausgehen, wenn sie jemanden von einem Moment zum anderen dazu bewegen kann, sein Leben als Banker gegen das eines Hobby-Dirigenten, zu tauschen.
Angelica Castello ließ sich damals nicht träumen, selbst einmal in Wien, der Stadt Mahlers, zu leben. Heute, achtzehn Jahre später, zählt sie auf ihrem Instrument, der Blockflöte, zu den Speerspitzen der neuen improvisierten Musik. Entspannt sitzt sie im Altwiener Cafe Ritter, und erzählt von der ersten Chorprobe, die Tage später einen so tiefen Einschnitt in ihrem Leben hinterließ. Schon die ersten Takte der Musik Mahlers hätten sie wie ein Stromschlag getroffen. „Es war wie bei einer großen Liebe“, sagt sie. „Unerklärlich und heftig.“ Eine Liebe auf den ersten Takt gleichsam, die bis zum heutigen Tage ungebrochen ist. Castello war fortan ein Fan und Mahler ihr Star, den sie anhimmelte. Dabei wurde Zuhause eigentlich nur Pop gehört. Klassik war die Revolte, und Mahler war der Vater dieser Revolte.
Salzburg, Mai 2011.
Im Büro der Salzburger Festspiele herrscht die Ruhe vor dem sommerlichen Sturm. Auch Intendant Markus Hinterhäuser kennt dieses Brennen für Mahler. Von Sucht spricht er sogar und „hypnotischer Überwältigung“. Für sie sei man vor allem mit siebzehn, achtzehn Jahren besonders empfänglich. Genau in diesem Alter habe er zuerst Bernstein mit der Fünften und dann Karajan mit der Neunten erlebt. Meilensteine. „Es ist ja nicht so, dass einen Musik jedes Mal mit solch einer rauschhaften Dimension packt.“ Damals aber habe man sie in einem viel schöneren Zustand, weil unbedarft erleben können. „Es war so unmittelbar. Eine Weltbeschreibung, die mich nie wieder losließ“.
Im Mahler-Jahr hätte es sich Hinterhäuser nun leicht machen und alle neun Symphonien und vielleicht sogar die fragmentarische zehnte zur Aufführung bringen können. Doch er wollte sich der Herzensangelegenheit Mahler anders nähern, ihn anders erlebbar machen. Seine Mahler-Szenen setzen auf Dialoge (etwa mit Schostakovitsch, Berg und Rott). So werden bisher verborgene Strukturen erkennbar gemacht und neue Hörsituationen geschaffen.
Dass es dabei zu einem ungewöhnlich hohen Kammermusikanteil kommt, sei unbeabsichtigt gewesen, so Hinterhäuser, und hat also mit dem Ausspruch Boulez´, Mahlers Einfluss auf die Avantgarde sei weniger in den monumentalen Symphonien auszumachen als in den kammermusikalisch besetzten Werken, etwa den Liederzyklen, nichts zu tun. Dennoch ist das Lied natürlich zentraler Bestandteil von Mahlers Symphonien: von den Wunderhornliedern der Ersten über die Vierte, die er rund um ein Lied komponierte, bis hin zum Lied von der Erde, wo die Symphonie selber zum Lied wird. Mahler-Biograph Kurt Blaukopf nannte es treffend „die Geburt symphonischen Musizierens aus dem Lied“. Und vielleicht ist ja gerade das der Grund, weshalb Mahler seinerzeit den jungen Hinterhäuser ebenso bestürmte wie es Leonard Cohen und Bob Dylan vermochten.
18. Mai 2011, Wien.
Der hundertste Todestag Mahlers wird in der Staatsoper mit einem eintägigen Symposium begangen. Gegen 19 Uhr betritt ein hagerer Mann mit schütterem Haar die Bühne. Vor der Aufführung Mahlers Neunter als abendlichem Höhepunkt wird er eine Stunde lang über Mahler sprechen. Er ist ernst, bestens vorbereitet und wähnt sich auf einer Mission, das wird schon nach wenigen Sätzen deutlich. Seine leicht zuckenden Hände verraten, wie gerne er doch jetzt einen Taktstock in Händen halten würde, um die Musik sprechen zu lassen.
Es ist Gilbert Kaplan, der zu uns Opernfans spricht – jener Mann also, der seinen Beruf für die Liebe zu Mahler aufgab und damit eine andere Liebe, nämlich die von Angelika Castello, entfachte. Je länger man ihm zuhört, wie er mit leise schüchterner Stimme über Mahler wie eine Geliebte spricht, desto mehr verliert seine Lebensgeschichte an Skurilität. Denn es ist die pure Hingabe, mit der Kaplan Mahlers Leben anhand von Musikbeispielen und Bildern greifbar macht. Und genau diese Bilder sind es auch, die uns weit mehr von Mahler erzählen als all die Metaphern und Mythen: Da ist das Komponierhäuschen am Attersee, Symbol für die völlige Abgeschiedenheit, die er fürs Komponieren brauchte, denn Kompromisse kannte Mahler nur als Mensch, nicht aber als Komponist. Symbol auch für ein durch und durch einsames Leben, das die Musik in jeder ihrer Fasern durchdrang.
Und dann ist da das letzte von Mahler überlieferte Bild. Es zeigt einen von Leben und Krankheit gezeichneten Mann, der an Deck eines Ozeandampfers sitzt
und während seiner letzten Überfahrt versucht so viel Luft in seine kranken Lungen zu saugen wie möglich. Sein „mächtiger, nervöser Wille“, wie es Catulle Mendés einmal nannte, ist erschöpft und er nähert sich langsam aber sicher jenem Zwischenreich, dem er sein kompositorisches Wirken widmete. „Onirico“ nennen es die Mexikaner. Onirico, so Castello, sei eines dieser Worte, das sich eigentlich nicht übersetzen ließe. Zwischenwelt, Traumwelt bedeute es und genau darin habe Mahler für sie Dinge gesehen, die vor ihm noch niemand gesehen hatte.
Der Raum, so hat Elfriede Jelinek einmal gesagt, und der sei auch die Leere dazwischen, fordere uns heraus, ihn zu beherrschen. Es sei ein Freigeben von Orten, die man vorher noch nicht gehört hat. Von Orten, die das Freie zeigen und es im selben Moment wieder weg nehmen, damit man dann immer wieder ins Freie, in den Raum jenseits des Raums zurückkehren möchte. Denn da war etwas, das lange gezögert, sich dann aber im selber Abspulen enthüllt hat: die Zeit, die einen Moment den Atem angehalten hat. Komponist Georg Friedrich Haas spricht von irreversiblen Prozessen. Manche seien spektakulär wie die Erfindung der Atonalität, andere seien vielleicht weniger spektakulär, dafür aber um nichts weniger bedeutsam. So der extreme Ausdruck Mahlers Musik, ihre Leuchtkraft und Intensität.
Mahlers Reise geht weiter. Der Dampfer hat seinen Zielhafen in Wahrheit nie erreicht. Was bleibt ist Mahler Musik, die von Kontrasten, von Leidenschaft und Gefühls-Achterbahnen lebt. Eine Musik, die in ihrer Zerrissenheit die gesamte Last einer sterbenden Epoche auf ihren Schultern trägt. Die große symphonische Dichtung, das große bildhafte Lied, das uns berauschen und in ein Zwischenwelt führen kann. Die glühende Begeisterung für verschiedene Raumklänge und ihrer Symbiose, die in vielen Musiken fortlebt, darunter auch in jener von Christian Fennesz. „Mir geht es darum, eine Klangwelt zu erschaffen, in der alles automatisch organisch beinhaltet ist“, sagt er und der Satz könnte ebenso gut von Mahler selbst stammen. Wie jede andere Musik auch reflektiere seine, so der Musiker und Komponist, eine bestimmte Epoche. „Wie alte Fotos, die man sich anschaut.“
Zurück in die Wiener Oper: Nach einer Stunde Vortrag geht Gilbert Kaplan von der Bühne ab, ohne den aufbrandenden Applaus abzuwarten. Eine Geste der Bescheidenheit, die zeigt, dass hier jemand uneitel ganz der Sache dienen will. Wahrscheinlich ist ihm, Mahlers wohl größtem lebenden Fan, der tagein tagaus seinen symphonischen Traum lebt, gar nicht bewusst, wie sehr seinem Idol diese Geste gefallen hätte.